Tagebücher

Vorbemerkung

Bildende Künstler schreiben nicht oft Tagebuch, sie drücken sich in ihren Werken in einer anderen Sprache aus. Für den Bildhauer, Maler und Grafiker Helmut Ammann war das Schreiben jedoch ein Medium der künstlerischen Reflexion.

Er vermochte in einer präzisen, philosophisch durchdrungenen und zugleich zutiefst poetischen Sprache die Gedanken formulieren, die er für sein Schaffen brauchte. Seine Notizen, die über einen Zeitraum von 75 Lebensjahren reichen, waren für ihn wichtiger Ideenfundus, Rechenschaftsbericht über Arbeitsfortschritte, sie bedeuteten innere Ordnung und den Gewinn von Einsichten. Schreiben war ihm eine tiefe Notwendigkeit.

Über das Schreiben

Am 29.XI.1966 heißt es in den Tagebüchern:

„Alles zwingt mich dazu, mit dem Schreiben Ernst zu machen, so ernst, als ob mein Leben davon abhinge. Es hängt auch davon ab, denn es rettet mich vor anderen allzu ernsten Späßen, auf die ich sonst verfallen könnte, es rettet mich vor mir selbst zu mir selbst, es gibt mir die Möglichkeit, meine unablässig quellende Lust zu komponieren, Beobachtungen festzuhalten, Ereignisse zu kombinieren, Gesichter und Menschen zu erkennen, Schicksale mitzuerleben und zu erleiden, vor allem im Geiste jene Gebiete, Schichten, Landschaften der Seele zu durchstreifen, die dem oberflächlichen Blick verborgen sind und sich nur dem wachen Traumauge öffnen. Diese Kunst zu komponieren, die mir zu meinem Kummer in der Musik versagt ist, obwohl alles, was ich fühle, denke und erlebe, vom Grunde her ganz musikalisch gefühlt, gedacht und erlebt wird, diese spielerische Freude an tausendfachen Assoziationen, dieser fortwährende Zwang, für einen erlebten Sinn oder vielschichtigen Zusammenhang Zeichen oder Formulierungen zu finden, dieses Getriebensein zur Form, die mich in der räumlichen Welt zum Bildhauer machte und das Erlebnis der substantiellen Farbigkeit aller Dinge dieser Welt, die sich, weil sie Lichtgeburten sind, auch in ihrer Farbigkeit auf ihren Ursprung beziehen, eben dieses Erlebnis also, das mich zum Maler machte, alles dieses drängt mich eben sehr zum Wort.“

Arbeiten in Stein

Mann und Ross Kantonsspital Schaffhausen, 1961

Tagebücher d. 31.III.1963

„Das ganze Geheimnis der bildhauerischen Musik liegt in der Stellung der Neigungswinkel der Wände und Flächen zueinander. Diese können auch über weite Entfernungen hin in Korrespondenz treten. Dann entstehen räumliche Kraftfelder zwischen ihnen. Auch können diese Wände und Flächen Farbträger sein. Dann kommt eine neue Dimension hinzu.“

aus Interview mit Helmut Ammann, 1996

„Zum Beispiel bei meiner großen Wand in Sennfeld, einer acht Meter hohen Steinfläche aus Travertin. Da hatte ich nur ein handgroßes Modell von der Gesamtsituation, dann zeichnete ich die Skizze frei mit Kohle in wenigen Strichen vom Gerüst aus auf den Stein und fing sofort an zu schlagen. Jede Kerbe nahm ich ganz ernst und machte keinen Fehlschlag an der Wand – nicht einen. Die Gesetzmäßigkeit liegt im Bewegen von Hammer und Meißel. Immer aber ist das Handwerkliche zugleich ein geistiger Vorgang. Es geht nicht nur um das Tun, sondern darum, dass während des Tuns plötzlich das Verständnis aufblüht. Dabei gilt es, die einfachste Form zu finden, die große Sprache, die einen großen Atem braucht.“

Arbeiten in Holz

„Ein Schlüsselwort für den bildhauerischen Weg heißt Vertrauen. Durch den ersten schicksalhaften Schlag ist das ganze Holz in neue Verhältnisse gerückt. Seine Landschaft sieht anders aus als vorher. Es ist wie beim Wandern in ein unbekanntes Gebiet. Wohl hat man ein Ziel, aber man kennt den Weg noch nicht und nun entdeckt man ihn erst ganz neu im Weiterschreiten. Schlag auf Schlag erfahre ich so das Holz, aber seine naturgegebene Form bleibt dabei immer gewahrt.

Es gilt, die Möglichkeit der Erweiterung immer zu erfassen, immer im Sinne des Ganzen. Die Einfälle kommen im Tun und aus dem Tun. Größte Disziplin darin üben, nichts zu tun, ohne dass es vorbereitet ist! Auch das schöpferische Warten ist notwendiger Teil des Entstehungsprozesses…

Vergangenheit und Zukunft, das Getane und das zu Tuende stürzen in der Aktivität dieses Gegenwartserlebnisses ineinander, umarmen, durchdringen sich und erzeugen neue Gegenwart. In diesem Gegenwartserlebnis gibt es eine schwebende Stelle: die Möglichkeit. Sie gilt es auszuloten. Das heißt, erfassen, eingreifen, erweitern, aber das Getane immer nur als vorläufig zu betrachten, bis das Gefühl sagt: Es ist genug.“

Schlüsselworte zur Kunst

„1953 habe ich meine Kräfte weit überspannt. Wenn auch bei der übermäßig intensiven Tätigkeit nach verschiedenen Seiten mir viele wichtige Erkenntnisse aufgingen, so war es doch fast vermessen, mit solcher Besessenheit zu schaffen. Es darf ja nicht so werden, dass man mit Hast zur Verborgenheit der Quellen im Grunde steigen muss, denn dann ist es nicht mehr möglich, die Schalen mit den Wassern des Lebens ruhig hinaufzutragen. Die Dämonen lauern immer am Wege und möchten so gerne, dass wir ihnen zuliebe etwas davon verschütten.“

Wir verwechseln aber oft Gestalt mit Zugreifbarkeit, dabei ist sie wie die Linie eines Vogelflugs in der Luft, wie eine gesungene Melodie, sie liegt in der Sprache der Verhältnisse z.B. in der Architektur oder in den zarten Neigungswinkeln der Form in Werken der   bildenden Kunst. In solchen Bezirken wohnt das Geheimnis der Qualität.

d. 12. III. 1994

So schwinden am Rande der Zeit die Entfernungen auch
und die Grenzen der Dinge
und von der Sprache der Neigungswinkel im Raum von Wand zu Wand
bleiben die Klänge nur
und die Farben der Horizonte verschmelzen mit denen der Himmel
zu einem einzigen Glanz,
in dem die Schiffe, die meeressüchtigen,
übergehen in die Buchten unsichtbarer Häfen – –  aus denen keines mehr heimkehrt,
beladen mit dem Traum der Ferne,
denn nun ist alles Nähe geworden im ewigen Jetzt. –